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Richtlinien und Hinweise für die Bearbeitung von Haftsachen und vorläufigen Unterbringungssachen bei der Staatsanwaltschaft
Richtlinien und Hinweise für die Bearbeitung von Haftsachen und vorläufigen Unterbringungssachen bei der Staatsanwaltschaft
vom 25. März 2015
(JMBl/15, [Nr. 5], S.38)
I.
Grundsätzliches
1.
Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 GG garantiert die Freiheit der Person. In diesem Freiheitsgrundrecht ist das in Haftsachen und in vorläufigen Unterbringungssachen (OLG Hamm NJW 2007, 3220) geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot angesiedelt. Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung betont, dass der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist und sich sein Gewicht gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert. Unabhängig von der zu erwartenden Strafe setzt zudem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer Grenzen. Diesen Grundsätzen trägt § 121 Absatz 1 StPO Rechnung, indem er bestimmt, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder „ein anderer wichtiger Grund“ das Urteil noch nicht zugelassen haben und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Diese Vorschrift lässt nur in begrenztem Umfang Ausnahmen zu und ist eng auszulegen (BVerfG StV 2005, 615 ff.; NStZ 1995, 459, 296; NJW 1974, 307).
Damit wird auch Artikel 5 Absatz 3 Satz 2 MRK entsprochen, wonach jeder in Haft befindliche Beschuldigte „Anspruch auf Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Haftentlassung während des Verfahrens“ hat. Strafverfolgungsbehörden und Gerichte sind danach verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Sechsmonatsfrist des § 121 Absatz 1 StPO in jedem Fall eingehalten werden kann. Die Justizverwaltungsbehörden haben ihnen hierzu jede nur mögliche Unterstützung zu gewähren. Der weitere Vollzug von Untersuchungshaft, die die in § 121 Absatz 1 StPO bestimmte Frist erheblich überschreitet, verstößt gegen Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 GG, wenn die Überschreitung dadurch verursacht ist, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen haben, um das Verfahren mit der gebotenen Beschleunigung abzuschließen (BVerfG StV 2008, 198; KG StraFo 2013, 502; s. auch BGH NStZ 1991, 546). Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung können bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen (dazu gehört auch die durch einen der Justiz anzulastenden Verfahrensfehler verursachte Urteilsaufhebung im Revisionsverfahren) nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft herangezogen werden (BVerfG StV 2005, 615). Der Vollzug von Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass eines Urteils findet nur in ganz besonderen Ausnahmefällen seine Rechtfertigung (BVerfG StV 2008, 198).
Auch bei der Überprüfung des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen der vorläufigen Unterbringung nach § 126a Absatz 2 StPO ist nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung im Rahmen der allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprüfung darauf abzustellen, ob es zu nicht hinnehmbaren Verfahrensverzögerungen gekommen ist (OLG Hamm NJW 2007, 3220; OLG Celle StraFo 2007, 372).
2.
Diese Richtlinien und Hinweise sollen helfen, die Umsetzung des besonderen verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebotes zu fördern und der Aufhebung von Haftbefehlen oder vorläufigen Unterbringungsbefehlen in Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO entgegenzuwirken.
II.
Allgemeine Folgen und Umfang des besonderen Beschleunigungsgebotes
1.
Verzögerungen des Verfahrens bei der Staatsanwaltschaft verletzen grundsätzlich das besondere Beschleunigungsgebot, es sei denn, dass hierfür ein die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigender „wichtiger Grund“ vorliegt. Personelle Engpässe bei der Staatsanwaltschaft stellen selbst dann keinen wichtigen Grund im Sinne des § 121 Absatz 1 StPO dar, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruhen, der sich trotz Ausschöpfung der organisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt. (KG NStZ 2001, 77, 78 bei Paeffgen, StV 1993, 203; s. auch OLG Frankfurt StV 1995, 142; OLG Bremen StV 1992, 181, 182; OLG Düsseldorf StV 1990, 503; OLG Schleswig StV 1985, 115). Auch angesichts allgemeiner Sparzwänge der öffentlichen Hand dürfen fehlende oder eingeschränkte finanzielle Mittel als im Verantwortungsbereich des Staates liegend nicht zu Lasten des mit der Unschuldsvermutung ausgestatteten Untersuchungsgefangenen ausschlagen (OLG Koblenz NStZ 1997, 252, 253).
2.
Verzögerungen bei den polizeilichen Ermittlungen verletzen ebenfalls grundsätzlich das besondere Beschleunigungsgebot, wobei auch die nicht nur vorübergehende Überlastung einer polizeilichen Dienststelle keinen „wichtigen Grund“ im Sinne des § 121 Absatz 1 StPO darstellt (BVerfG StV 1992, 121; OLG Bremen StV 1992, 426). Die Dezernenten müssen sich deshalb fortlaufend über den Stand der Ermittlungen unterrichten lassen und erforderlichenfalls auf diese Einfluss nehmen. Dabei sind Art und Umfang der Ermittlungen konkret zu bestimmen, um entbehrliche Ermittlungsmaßnahmen vermeiden zu können. Um „Aufnahme“ bzw. „Fortsetzung der Ermittlungen“ zu bitten, ist nicht nur in Haftsachen unzulässig (vgl. Nummer 11 Absatz 1 RiStBV). Die Einhaltung der dem besonderen Beschleunigungsgebot entsprechend vorzugebenden Erledigungsfristen ist zu kontrollieren; Verzögerungsgründe sind in den Akten zu vermerken. Ist seit Erlass eines Haftbefehls keine Förderung des Ermittlungsverfahrens zu erkennen, sind insbesondere keine weiteren Ermittlungstätigkeiten vorgenommen, Beweismittel benutzt oder ausgewertet worden, kann dies die Aufhebung des Haftbefehls wegen Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch dann gebieten, wenn der Beschuldigte noch nicht 6 Monate inhaftiert ist, weil auch vor Erreichen der Sechsmonatsgrenze dem Verfahren zügig Fortgang gegeben werden muss (KG StraFo 2013, 502; OLG Schleswig-Holstein StV 2005, 140).
3.
Die Staatsanwaltschaft hat darauf hinzuwirken, dass auch die Gerichte dem besonderen Beschleunigungsgebot entsprechen. Dabei ist zu beachten, dass bei den Ermittlungen eingetretene Verfahrensverzögerungen durch eine besonders vorrangige weitere Bearbeitung bei den Gerichten in gewissem Umfang ausgeglichen werden können (BGHSt 38, 43; OLG Brandenburg StraFo 2007, 199, Beschluss vom 22. Dezember 2004 – 1 HEs 18/04 –; OLG Thüringen NStZ 1997, 452, 453; KG StV 1993, 203). Die Dezernenten sollten daher in jedem Fall das Verfahren dem zuständigen Gericht vorab ankündigen und auf eine besonders vorrangige Bearbeitung drängen.
4.
Das besondere Beschleunigungsgebot gilt auch, wenn nur Überhaft notiert ist (BVerfG StV 2006, 251; KG StV 2002, 554; OLG Karlsruhe StV 2002, 317; OLG Stuttgart StV 2014, 752; OLG Brandenburg NStZ 2000, 80 bei Paeffgen) oder die Untersuchungshaft durch Strafhaft bzw. zur Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe unterbrochen worden ist (KG StV 1992, 523). Es ist selbst dann zu berücksichtigen, wenn der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt (BVerfG StV 2003, 30; OLG Köln StV 2005, 396, 297; KG StV 2003, 627, 628; OLG Bremen StV 1994, 666) oder sogar aufgehoben worden ist, falls die Staatsanwaltschaft hiergegen Rechtsmittel eingelegt hat (BVerfG StV 1995, 199). Das Beschleunigungsgebot hat schließlich auch Geltung nach Erlass eines erstinstanzlichen Urteils, wenn hiergegen Rechtsmittel eingelegt worden und das Verfahren somit noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist (OLG Oldenburg StV 1992, 481).
5.
Ist gegen den Beschuldigten eine Freiheitsstrafe zu vollstrecken, dann ist unverzüglich die Unterbrechung der Untersuchungshaft zur Vollstreckung zu veranlassen (§ 116b StPO). Ebenso ist bei Vorliegen der Voraussetzungen nach § 453c StPO (Sicherungshaftbefehl) zu verfahren.
6.
Ein Haftbefehl wird mit Beendigung des Verfahrens aufgrund rechtskräftiger Verurteilung gegenstandslos. Demzufolge kann er auch nach Durchbrechung der Rechtskraft infolge gewährter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht „wieder aufleben“ und die Grundlage für eine weitere Inhaftierung bilden (BVerfG StV 2005, 613 f.). Dies gilt auch für andere Durchbrechungen der Rechtskraft des angefochtenen Urteils in der Revisionsinstanz durch Zurückversetzung des Verfahrens gemäß § 356a StPO und Erstreckung der Aufhebung des Urteils auf den Mitangeklagten gemäß § 357 StPO. Erhält die Staatsanwaltschaft in einem Verfahren Kenntnis, dass eine Rechtskraft durchbrechende Entscheidung bereits ergangen oder mit einer solchen zu rechnen ist, so hat sie – sofern der Angeklagte nicht auf freien Fuß gesetzt werden soll – unverzüglich einen neuen Haftbefehl zu beantragen.
III.
Folgen des Beschleunigungsgebotes im Einzelnen
1.
Die Ermittlungen wegen weiterer Straftaten, wegen derer aber kein dringender Tatverdacht besteht, dürfen die Anklageerhebung gegen den Beschuldigten wegen der vom Haftbefehl erfassten Tat nicht verzögern, denn ein „wichtiger Grund“ im Sinne des § 121 Absatz 1 StPO kann sich grundsätzlich nur auf solche Taten beziehen, die im Haftbefehl aufgeführt sind und derentwegen die Untersuchungshaft vollzogen wird (BVerfG NStZ 2002, 100, 101; OLG Bamberg StV 2002, 608). Ist ein Teil der Ermittlungen gegen den Beschuldigten abgeschlossen, kann es dem Beschleunigungsgebot demnach entsprechen, dass eine Abtrennung erfolgt und die Akten von der Polizei umgehend der Staatsanwaltschaft zur Fertigung einer Teilanklage zugeleitet werden (OLG Frankfurt StV 1995, 423).
2.
Bei einem äußerst umfangreichen Ermittlungsverfahren kann es das Beschleunigungsgebot erfordern, auf eine Konzentration der Ermittlungen bei der Polizei und eine Beschränkung des Verfahrensstoffes nach § 154 oder nach § 154a StPO hinzuwirken (OLG Köln StV 1993, 33).
3.
Ermittlungsmaßnahmen, die sich allenfalls am Rande auf das verfahrensgegenständliche Tatgeschehen beziehen oder bisherige Ermittlungsergebnisse lediglich abrunden, rechtfertigen es nicht, die Erhebung der Anklage zu verzögern. Solche Ermittlungsergebnisse können vielmehr nach Erhebung der Anklage nachgereicht werden (BVerfG StV 1994, 589; OLG Brandenburg StV 2000, 37, 38). Hat der Beschuldigte bereits zu Beginn des Ermittlungsverfahrens ein glaubhaftes Geständnis abgelegt, so ist eine Zurückstellung der Anklageerhebung zur Vernehmung zahlreicher tatferner Zeugen kein wichtiger Grund für eine Haftfortdauer (OLG Thüringen NStZ 1999, 77 bei Paeffgen).
4.
Sind bei gemeinschaftlich begangenen Straftaten Mittäter noch unbekannt, dürfen Ermittlungen, die ausschließlich gegen bisher unbekannte Tatbeteiligte geführt werden, den Abschluss des Verfahrens gegen den inhaftierten Beschuldigten nicht verzögern (OLG Brandenburg, Beschluss vom 15. November 2005 – 2 HEs 24/05 –); erst recht dann nicht, wenn er geständig ist. Auch in diesem Fall hat ggf. eine Abtrennung zu erfolgen. Sind in einem Verfahren gegen mehrere bekannte Mittäter nur noch Ermittlungen gegen einzelne Mittäter erforderlich, muss das Verfahren gegen die übrigen in Untersuchungshaft befindlichen Mittäter abgetrennt werden, wenn eine gemeinsame Verhandlung gegen alle Mittäter nicht unerlässlich ist (OLG Koblenz StV 2001, 302).
5.
Die Fahndung nach Mittätern oder Tatbeteiligten bzw. Ermittlungen gegen diese dürfen die Anklageerhebung gegen den in Untersuchungshaft befindlichen Täter auch dann nicht verzögern, wenn bei unverzüglicher Anklageerhebung wegen derzeit nicht widerlegbarer Schuldzuweisungen an die Mittäter eine geringere Bestrafung zu erwarten ist.
6.
Stets ist die Notwendigkeit von Gutachten zu prüfen. Müssen sie eingeholt werden, haben die Dezernenten die erforderlichen Aufträge sofort zu erteilen (KG StV 2015, 45; OLG Oldenburg StV 1994, 666; OLG Braunschweig StV 1993, 376). Vor Auf-tragserteilung sind in einem persönlichen (auch telefonischen) Gespräch die Bereitschaft des Sachverständigen zur kurzfristigen Gutachtenerstattung und ein Fertigstellungstermin abzusprechen (§ 73 Absatz 1 Satz 2 StPO; OLG Hamm StV 2000, 629, 630). Dabei wird für psychiatrische Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit im Regelfall ein Zeitraum von ein bis zwei Monaten als ausreichend betrachtet werden müssen (OLG Thüringen StV 2004, 664, 665). Im Auftragsschreiben ist auf das Gespräch hinzuweisen; der Auftrag ist im Einzelnen zu spezifizieren (Nummer 72 Absatz 2 RiStBV). Über alle Bemühungen, insbesondere auch über die Suche nach und die Auswahl von geeigneten Sachverständigen, sind Vermerke zu den Akten – nicht nur den Handakten – zu bringen.
Die Beauftragung eines bereits überlasteten Sachverständigen ist unzulässig. Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Sachverständigen mit forensischen Aufgaben und anderer Arbeit ist kein „wichtiger Grund“ für die Haftfortdauer gemäß § 121 Absatz 1 StPO (OLG Thüringen StV 2004, 664; OLG Düsseldorf StV 2000, 133 bei Paeffgen; OLG Zweibrücken NStZ 1994, 202).
Geht das Gutachten – dies gilt ebenso für Übersetzungen – nicht fristgemäß ein, so sind formularmäßige Erinnerungen nicht angebracht. Es empfehlen sich vielmehr in Vermerksform niederzulegende fernmündliche Anfragen oder persönliche Anschreiben unter Hinweis auf die besondere Eilbedürftigkeit. In der Regel wird die Benutzung eines Telefaxgerätes angezeigt sein.
Die Fertigstellung des Gutachtens sollte bei Überschreitung des abgesprochenen Termins unter Nachfristsetzung angemahnt werden, ggf. muss bei fruchtloser Nachfristsetzung auch von der Androhung und Festsetzung von Ordnungsgeldern Gebrauch gemacht werden (§ 77 StPO). Grundsätzlich sind die Sachverständigen zu bitten, das Ergebnis ihrer Begutachtung vorab, ggf. fernmündlich, kurz mitzuteilen. Oft wird schon aufgrund dieser Mitteilung über die Anklageerhebung entschieden werden können.
Besteht somit bereits vor Eingang des vollständigen Gutachtens hinreichender Tatverdacht, ist unverzüglich Anklage zu erheben. Das gilt zum Beispiel, wenn nicht mehr die Schuldfähigkeit, sondern nur das Vorliegen verminderter Schuldfähigkeit in Frage steht, und das ausstehende Gutachten somit nur für die spätere Strafzumessung von Bedeutung sein wird oder zur Klärung der Voraussetzungen einer in Betracht kommenden Sicherungsverwahrung dient (OLG Brandenburg StV 2000, 37, 38). Auch wenn nur das Randgeschehen gutachterlich zu prüfen ist, muss Anklage sofort erhoben werden (vgl. OLG Oldenburg StV 1993, 429; OLG Frankfurt StV 1993, 253).
Kommt es auf die Glaubwürdigkeit von minderjährigen Zeugen an, ist in Haftsachen rechtzeitig die Einholung eines entsprechenden Gutachtens anzuordnen. Davon ist nur dann abzusehen, wenn sonstige nachgewiesene Tatsachen oder ein glaubhaftes Geständnis des Beschuldigten für die Richtigkeit der Aussage sprechen.
7.
Erhebt die Staatsanwaltschaft vor einem unzuständigen Gericht Anklage, kann die dadurch eingetretene Verfahrensverzögerung der Annahme eines „wichtigen Grundes“ im Sinne des § 121 Absatz 1 StPO entgegenstehen (BVerfG StV 2000, 321; StV 1992, 522; vgl. auch OLG Frankfurt StV 1994, 328).
8.
Zur Vermeidung eines das Beschleunigungsgebot verletzenden groben Versäumnisses ist die Staatsanwaltschaft gehalten, zu versuchen, die drohende Ausweisung eines in der Hauptverhandlung benötigten Zeugen bis nach seiner Vernehmung – insbesondere durch Absprachen mit der Ausländerbehörde – aufzuschieben (KG NStZ 1997, 203, 204).
IV.
Behandlung der Haftsachen bei der Staatsanwaltschaft
1.
Haftsachen und vorläufige Unterbringungssachen sind besonders vorrangig zu bearbeiten.
2.
Alle Verfügungen in Haftsachen sind am rechten oberen Rand des Aktenblattes mit dem Zusatz „Haft!“ und die Verfügungen in vorläufigen Unterbringungssachen mit dem Zusatz „vorläufige Unterbringung!“ zu versehen. Die vorrangige Erledigung der Verfügungen ist insbesondere durch Weitergabe der Akten von Hand zu Hand sicherzustellen und zu kontrollieren. Kanzleilaufzeiten von mehr als drei Arbeitstagen sind, von besonders umfangreichen Schreibarbeiten abgesehen, durch geeignete Maßnahmen auszuschließen.
3.
Falls es nicht binnen drei Monaten Untersuchungshaft oder vorläufiger Unterbringung zur Erhebung einer Anklage gekommen ist, müssen die Abteilungsleiter diese Haftsachen anlässlich der monatlichen Kontrolle der Haftlisten mit den Dezernenten einzeln erörtern und den Abschluss des Verfahrens besonders überwachen. Sollte eine Verzögerung eingetreten sein und dadurch das Risiko einer Haftbefehlsaufhebung bestehen, ist der Behördenleitung vorzutragen.
4.
Drohen nicht nur kurzfristige Verzögerungen im gerichtlichen Bereich, ist die Behördenleitung zu informieren. Das gilt insbesondere bei dauerhaften Überlastungen der gerichtlichen Spruchkörper, die die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft über die Sechsmonatsgrenze hinaus ebenfalls nicht rechtfertigen. Die nicht nur kurzfristige Überlastung gerichtlicher Spruchkörper mit Haftsachen ist angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Artikels 2 Absatz 2 GG selbst dann kein wichtiger Grund, der weiteren Haftvollzug rechtfertigt, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichts-organisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt (BVerfG NStZ 2004, 49, 50). 5.
Da das Oberlandesgericht im Verfahren nach §§ 121, 122 StPO nicht berechtigt ist, den Haftbefehl von sich aus zu ergänzen bzw. umzustellen, haben die Dezernenten vor der Vorlage der Akten rechtzeitig darauf hinzuwirken, dass der Haftbefehl den veränderten Ermittlungsergebnissen angepasst wird.
V.
Aktenführung
1.
Der Aktenführung ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
2.
In Haftsachen und vorläufigen Unterbringungssachen sind grundsätzlich Aktendoppel (Haftsonderbände) als Hilfsakten (vgl. Nummern 12, 54 Absatz 3, 56 Absatz 3 RiStBV; BVerfG NJW 1994, 2081) und ggf. weitere Hilfsakten (Mehrfachakten) anzulegen, die für eine Versendung zum Zweck der Haftprüfung oder aus sonstigen Gründen zur Verfügung stehen. Während der Versendung von Hilfsakten sind die Ermittlungen aus den Hauptakten (Originalakten) mit der gebotenen Beschleunigung fortzuführen. Bei Rückkehr der Hilfsakten sind diese, soweit noch benötigt, unbedingt zu vervollständigen.
3.
Alle ergriffenen Maßnahmen sind lückenlos in den Akten darzustellen (vgl. § 168b Absatz 1 StPO). Dies gilt auch für telefonische Ermittlungen, Aufträge, Erinnerungen, die Einschaltung der Haftentscheidungshilfe usw. Selbst Ermittlungen, die kein den Tatvorwurf stützendes Ergebnis erbracht haben, zum Beispiel vergebliche Zeugenladungen, erfolglose Fahndungsmaßnahmen nach Zeugen oder Tatbeteiligten und Ähnliches, müssen aktenkundig gemacht werden, um die Förderung der Ermittlungen zu dokumentieren. Im Fall der Vorlage der Akten an die Generalstaatsanwaltschaft zur Weiterleitung an das Oberlandesgericht ist darin zu vermerken, aus welchen Gründen das Verfahren noch nicht zur Anklageerhebung oder zur Hauptverhandlung gediehen ist.
4.
Die Dezernenten haben dafür Sorge zu tragen, dass die für die Haftprüfung bestimmten Hilfsakten (Haftsonderbände) ausnahmslos mit den Hauptakten übereinstimmen; und zwar auch dann, wenn sich diese bereits bei Gericht befinden. Die vollständige Übereinstimmung ist bei der Vorlage an die Generalstaatsanwaltschaft ausdrücklich in den zu überreichenden Haftsonderbänden zu vermerken.
5.
In umfangreichen Haftsachen und vorläufigen Unterbringungssachen sind in dem Übersendungsbericht an die Generalstaatsanwaltschaft die Beweismittel, aus denen sich der dringende Tatverdacht ergibt, mit Fundstellen aufzuführen.
VI.
Vorlage der Akten an das Oberlandesgericht
1.
Es ist unter allen Umständen darauf zu achten, dass dem Oberlandesgericht die Akten rechtzeitig vor Ablauf der Sechsmonatsfrist über die Generalstaatsanwaltschaft vorgelegt werden (vgl. Nummer 56 Absatz 1 RiStBV). Die Akten sollten daher der Generalstaatsanwaltschaft zehn Tage vor dem Haftprüfungstermin vorliegen. Wesentlich frühere Vorlagen sind zu vermeiden. Auch während des Zeitraumes der Vorlage haben die Dezernenten das Verfahren im Rahmen des Möglichen zu fördern.
2.
In die Sechsmonatsfrist ist die Dauer einer vorangegangenen einstweiligen Unterbringung gemäß § 126a StPO in derselben Sache einzuberechnen (OLG Düsseldorf MDR 1994, 192; OLG Celle MDR 1985, 694; vgl. OLG Düsseldorf NStZ 1996, 355). Auf einen lückenlosen Übergang von der Unterbringung zur Untersuchungshaft kommt es nicht an (OLG Celle NStZ 1991, 248; a. A. OLG Koblenz MDR 1975, 422).
3.
Bei der Berechnung der Sechsmonatsfrist ist von dem Zeitpunkt des Beginns der Vollziehung des in Kraft befindlichen Haftbefehls oder vorläufigen Unterbringungsbefehls auszugehen. Die Frist berechnet sich nach § 43 StPO (nunmehr h.M., s. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 121 Rdn. 4 m. w. N.). Ist der Beschuldigte demnach aufgrund eines bereits bestehenden Haftbefehls zum Beispiel am 5. März festgenommen worden, endet die Sechsmonatsfrist mit Ablauf des 5. September. Ist dagegen am 5. März seine vorläufige Festnahme erfolgt und ist am 6. März Haftbefehl erlassen worden, endet die Sechsmonatsfrist mit Ablauf des 6. September.
Im konkreten Fall kann die Berechnung aber Schwierigkeiten bereiten, wenn gegen den Beschuldigten aufgrund eines früheren Haftbefehls bereits Untersuchungshaft vollzogen worden und daher zu entscheiden ist, ob diese Haftzeiten „wegen derselben Tat“ erfolgt und bei der Berechnung der Sechsmonatsfrist mit einzubeziehen sind. Zu beachten ist, dass der Begriff „wegen derselben Tat“ im Sinne des § 121 Absatz 1 StPO weiter als der prozessuale Tatbegriff des § 264 StPO zu fassen ist, wobei die herrschende Meinung für die Berechnung grundsätzlich auf die „in demselben Verfahren“ erlittene Untersuchungshaft abstellt. Falls daher im Lauf der Ermittlungen ein erneuter Haftbefehl ergeht, der den vorangegangenen Haftbefehl modifizierend ersetzt, hat dies nicht zur Folge, dass die Frist des § 121 Absatz 1 erneut in Gang gesetzt wird. Auch wenn der frühere Haftbefehl aufgehoben und wegen anderer Straftaten ein neuer Haftbefehl erlassen und der Beschuldigte nun deshalb in Untersuchungshaft genommen wird oder dort verbleibt, wird die Frist des § 121 Absatz 1 StPO nicht erneut in Gang gesetzt, sondern die wegen des früheren Haftbefehls vollzogene Untersuchungshaft mit einberechnet, sofern bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des früheren Haftbefehls die Straftaten, die dem neuen Haftbefehl zugrunde liegen, den Strafverfolgungsbehörden bekannt waren und in den früheren Haftbefehl hätten aufgenommen werden können (OLG Brandenburg StV 1997, 536; OLG Koblenz, Beschluss vom 17.09.2014 – 2 Ws 486/14H – bei juris; OLG Celle StV 2012, 421; OLG Karlsruhe StV 2000, 513). Das gilt selbst dann, wenn die Straftaten Gegenstand anderer Verfahren waren. Damit soll vermieden werden, dass die Prüfungsfrist des § 121 Absatz 1 StPO umgangen wird, indem solche Tatvorwürfe, die bereits beim Erlass des früheren Haftbefehls hätten berücksichtigt werden können, zurückgehalten werden, um sie zur Begründung eines neuen Haftbefehls zu verwenden (sog. „Reservehaltung“ von Tatvorwürfen, vgl. OLG Dresden NJW 2010, 952). Selbst Taten, für die dringender Tatverdacht erst nach Erlass des Ursprungshaftbefehls entstanden ist, unterfallen dem erweiterten Tatbegriff, wenn sie Teil einer insgesamt einheitlichen Serie gleichgerichteter Taten sind, die einem einheitlichen Lebensvorgang entspringen, der Gegenstand des bestehenden Haftbefehls ist und die Ermittlungsrichtung bestimmt hat (OLG Koblenz a. a. O.).
Ansonsten werden Taten, die erst nach Erlass des Ursprungshaftbefehls bekannt werden, vom erweiterten Tatbegriff nicht erfasst. Sie setzen, soweit sie haftrelevant sind, eine neue Sechsmonatsfrist in Gang, die von dem Zeitpunkt an zu laufen beginnt, ab dem wegen dieser Vorwürfe erstmals dringender Tatverdacht bestand. Maßgeblich für den Fristbeginn ist der Tag, an dem der neue Haftbefehl hätte erlassen oder der bestehende Haftbefehl hätte erweitert werden können (OLG Koblenz a. a. O.; OLG Brandenburg a. a. O.; OLG Stuttgart StV 2008, 85; Meyer-Goßner/ Schmitt, 57. Aufl., § 121 Rdn. 14). Entsprechendes gilt, wenn der Beschuldigte während des Vollzugs des Ursprungshaftbefehls, bei einer Unterbrechung des Vollzugs oder nach Aufhebung des Haftbefehls neue Straftaten begeht (Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., Rdn. 15; OLG Karlsruhe Die Justiz 1983, 85).
Im Einzelnen ist der Tatbegriff des § 121 Absatz 1 StPO allerdings noch nicht geklärt (s. dazu OLG Düsseldorf StV 1996, 553, 554; OLG Hamburg StV 1989, 489; OLG Düsseldorf StV 1989, 256; OLG Celle NStZ 1989, 243; 1987, 571; Paeffgen NStZ 1989, 514). Es wird auch vertreten, dass es zur Verhinderung eines Missbrauchs des Haftrechts im Sinne einer „Reservehaltung“ von Tatvorwürfen durch Aufsplitterung eines einheitlichen Verfahrens ausreicht, eine Ausdehnung des Begriffes der Tatidentität auf solche Fälle zu beschränken, die – zumindest objektiv – die Annahme einer zweckwidrigen Verfahrensaufsplitterung nicht ausgeschlossen erscheinen lassen. Unter dieser Voraussetzung wird eine „Zusammenrechnung“ von in mehreren Verfahren erlittener Untersuchungshaft nur dann gefordert, wenn zu der rein theoretischen Möglichkeit einer Verfahrensverbindung über die Person des Beschuldigten hinaus ein innerer zeitlicher und sachlicher Zusammenhang der verschiedenen Tatvorwürfe und eine gewisse Einheitlichkeit des Ermittlungskomplexes hinzutreten, die eine theoretisch mögliche Verbindung auch tatsächlich sachgerecht erscheinen lassen (OLG Brandenburg, Beschluss vom 30. Mai 2005 – 1 HEs 11/05 –; OLG Jena StV 1999, 329 f.; OLG Köln NStZ – RR 1998, 181 f.).
4.
Führt die Haftprüfung des Oberlandesgerichts wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot zum Abbruch der Untersuchungshaft, dann soll nach wohl herrschender Auffassung bis zum Erlass eines Urteils kein neuer Haftbefehl wegen derselben Tat im Sinne des § 121 Absatz 1 StPO erlassen werden dürfen (OLG Brandenburg, Beschluss vom 29. Juni 2000 – 2 Ws 190/00 –; OLG München StV 1996, 676; OLG Düsseldorf StV 1996, 493; OLG Zweibrücken StV 1996, 494; LR-Hilger, 26. Aufl., § 121 Rdn. 47).
VII.
Inkrafttreten
Diese Rundverfügung tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft. Zugleich wird meine gleichnamige Rundverfügung vom 24. Oktober 2014 (442-2) aufgehoben.
Dr. Rautenberg