Bearbeitung sexueller Gewaltdelikte gegen Frauen
vom 18. Januar 1993
(ABl./93, [Nr. 11], S.210)
Allgemeines
Durch Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung werden die Opfer gedemütigt und seelisch verletzt.
Untersuchungen belegen einen Widerspruch zwischen der Schwere und den Folgen der Rechtsverletzung für die Opfer und der Behandlung durch die Strafverfolgungsbehörden.
Es ist für die Polizei erforderlich, eine vorurteilsfreie Ermittlungsarbeit zu leisten, die auf die psychische Belastung der Opfer besondere Rücksicht nimmt.
1. Verhalten bei der Anzeigenerstattung
Tataufklärung sowie Einstellung des Opfers zur Tat und ihren Folgen werden wesentlich von den Erstkontakten mit der Polizei bestimmt. In dieser Situation sind Einfühlungsvermögen und Zurückhaltung geboten.
Fahndungsmaßnahmen sind mit Nachdruck einzuleiten. Das Opfer soll erkennen, daß der Einsatz der Polizei der Schwere des Delikts angemessen ist, und zwar auch dann, wenn sich der Wahrheitsgehalt der Aussagen noch nicht beurteilen läßt.
Es müssen alle für die Täterfahndung und die ersten Ermittlungen notwendigen Informationen (taktische Beurteilung, Eigensicherung, drohender Beweismittelverlust) erhoben werden. Soweit ausreichend, sollte sich die Erstbefragung des Opfers auf den groben Sachverhalt, den Ort und den Zeitpunkt der Tat sowie auf Hinweise zu Tätern, Zeugen und möglichen Tatspuren beschränken. Fragen zu persönlichen Verhältnissen des Opfers, zur Vorgeschichte der Tat und zu Einzelheiten des Tathergangs sind zu diesem Zeitpunkt in der Regel unnötig.
Die Äußerung von Zweifeln am Wahrheitsgehalt der Angaben oder Vorwürfe gegen das Opfer haben zu unterbleiben. Es ist auf die Möglichkeit hinzuweisen, eine Person seines Vertrauens, auch einen Rechtsanwalt, zu benachrichtigen oder hinzuzuziehen (§ 406 f, Abs. 3 StPO).
Soweit erforderlich, ist eine ärztliche Betreuung zu vermitteln. Die polizeilichen Ermittlungen sollten ohne Verzögerung fortgesetzt werden.
2. Information der Staatsanwaltschaft
Bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist die Staatsanwaltschaft unverzüglich (fernmündlich vorab/Telefax) zu unterrichten.
3. Sachbearbeitung
Die Bearbeitung sexueller Gewaltdelikte ist grundsätzlich speziell ausgebildeten Sachbearbeitern/-innen zu übertragen. Mit dieser Aufgabe sind nur Polizeibedienstete zu betrauen, die sich durch vorurteilsfreie Haltung, Einfühlungsvermögen, Toleranz und Gesprächsfähigkeit auszeichnen.
Frauen als Opfer sexueller Gewalttaten sind ausdrücklich auf die Möglichkeit hinzuweisen, sich - ggf. später - durch eine Frau vernehmen zu lassen. Die Behörden stellen sicher, daß im Rahmen der personellen Möglichkeiten geschulte weibliche Polizisten zur Verfügung stehen. Dabei sind auch Bedienstete außerhalb der zuständigen Kommissariate zu berücksichtigen. Bei Bedarf sind Absprachen mit Nachbarbehörden zu treffen.
Bei den Polizeibehörden ist ein Verzeichnis über die speziell ausgebildeten Sachbearbeiter/-innen vorzuhalten, auf das jederzeit zurückgegriffen werden kann.
4. Vernehmung des Opfers
Bei der Vernehmung ist auf die seelische Ausnahmesituation des Opfers Rücksicht zu nehmen. Daher ist eine Vernehmungssituation zu schaffen, die frei von äußeren Störungen, Mißtrauen und Vorwürfen ist. Durch verständnisvolle Haltung, Geduld und Ruhe soll eine Atmosphäre des Vertrauens erreicht werden, die dem Opfer die Schilderung der Tat erleichtert.
Dem Wunsch des Opfers nach der Anwesenheit einer Person seines Vertrauens bei der Vernehmung ist grundsätzlich stattzugeben. Steht das Opfer zu dieser Person in einem Abhängigkeitsverhältnis, so ist in deren Abwesenheit zu klären, ob sie bei der Vernehmung anwesend sein soll.
Opfer sexueller Gewalttaten sollen darüber informiert werden, warum polizeiliche Maßnahmen erforderlich und auch den Intimbereich berührende Fragen notwendig sind.
Auf die Möglichkeiten der Geschädigten nach dem Opferschutzgesetz ist hinzuweisen.
Vernehmungen des Opfers sind durchgehend von demselben Sachbearbeiter durchzuführen. Ein Wechsel während der Vernehmung hat grundsätzlich zu unterbleiben. Bei Folgevernehmungen sind dem Opfer die Gründe hierfür darzulegen.
Bei einer Vernehmung kurz nach der Tat sollte sichergestellt werden, daß das Opfer auf Wunsch nach Hause begleitet wird.
5. Weitere Maßnahmen
Grundsätzlich ist von einer direkten Gegenüberstellung des Opfers mit Tatverdächtigen abzusehen. Wahlgegenüberstellungen sind so durchzuführen, daß das Opfer von den Tatverdächtigen und Vergleichspersonen nach Möglichkeit nicht gesehen werden kann.
Wahllichtbildvorlagen sind mit Rücksicht auf das Opfer zeitlich zu begrenzen, um eine Überforderung zu vermeiden.
Ist eine intensive Spurensuche am Opfer erforderlich, sollte sie ihm erläutert werden. Eine Beeinträchtigung der Intimsphäre ist möglichst zu vermeiden. Für die Beweisführung bei körperlichen Verletzungen ist im Regelfall eine genaue ärztliche Beschreibung ausreichend. Fotoaufnahmen vom Genitalbereich haben grundsätzlich zu unterbleiben.
6. Aus- und Fortbildung
Die Problematik sexueller Gewalt gegen Frauen und die Auswirkung polizeilichen Verhaltens auf die Opfer ist Bestandteil der polizeilichen Ausbildung.
Das Thema ist auf der Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Fächern Kriminalistik/Kriminologie/Strafrecht/Psychologie zu behandeln.
Die Leiter der zuständigen Kommissariate sowie die mit der Bearbeitung dieser Delikte betrauten Sachbearbeiter/-innen der Kriminalpolizei werden in speziellen Seminaren mit dem aktuellen Erkenntnisstand vertraut gemacht.
7. Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen und Ärzten
Private Selbsthilfeorganisationen leisten betroffenen Frauen sachkundige Hilfe bei der Bewältigung der erlebten Krisensituation und der unvermeidlichen Belastung durch das Ermittlungsverfahren. Die zuständigen Kommissariate haben mit diesen Institutionen Kontakt zu halten und Opfer auf Beratungs- und Selbsthilfeangebote hinzuweisen.
Zur Gewährleistung einer sachgerechten und opferorientierten Spurensuche und -sicherung sind von den Behörden die Aufträge zu den notwendigen ärztlichen Untersuchungen möglichst auf wenige medizinische Einrichtungen mit entsprechendem Fachpersonal zu konzentrieren. Durch enge Kontakte mit diesen Einrichtungen ist das Untersuchungspersonal über die kriminalistischen Beweisanforderungen zu informieren.
8. Öffentlichkeitsarbeit
Polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit hat sich vorrangig an den Bedürfnissen der Opfer zu orientieren. Sachverhalte sind wertungsfrei und hauptsächlich fahndungsorientiert darzustellen. Der Schutz der Persönlichkeit des Opfers hat Vorrang vor anderen Gesichtspunkten.
Sachkundige Bedienstete der Kriminalpolizei sollen in ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich verstärkt in entsprechenden Arbeitskreisen mitwirken und sich an öffentlichen Diskussionen zu der Problematik beteiligen.
9. Der Erlaß ergeht im Einvernehmen mit dem Ministerium der Justiz und dem Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen.